Erstveröffentlichung in Bildungsklick
Schule zum Reallabor für transformative Bildung entwickeln!
Auf der UNESCO-Weltkonferenz zu Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) hat Deutschland 2021 BNE als Grundlage für die gesellschaftliche Transformation zu mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit anerkannt und sich verpflichtet, Schulen zu Orten und Akteuren transformativer Bildung zu machen. Wo bleibt die bildungspolitische Umsetzung?
Die Weltkonferenz, die vom 17. bis 19. Mai von der UNESCO und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung gemeinsam mit der Deutschen UNESCO-Kommission (DUK) in Berlin durchgeführt wurde, bildete den offiziellen Auftakt für die neue Dekade zur weltweiten Verankerung des Programms BNE 2030 in allen Bildungsbereichen bis 2030. Die Konferenz mündete in der Berliner Erklärung. Sie ist geprägt von der Überzeugung, dass BNE der Schlüssel für die Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele zur Transformation unserer Welt ist, zu der die Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution am 25. September 2015 die Staaten aufgerufen hat, um das Überleben auf dem Planeten für Mensch und Natur zu sichern.
Die UNESCO-Konzeption von BNE
Die UNESCO hebt in der Berliner Erklärung den wertebasierten Ansatz von BNE hervor. BNE gründet auf den Menschenrechten, der Achtung der Natur, der Kultur des Friedens und der Inklusion. BNE ist als integraler Bestandteil des Nachhaltigkeitsziels „hochwertige inklusive Bildung“ immer auch Bildung für inklusive Entwicklung.
BNE zielt auf die Förderung verantwortungsbewusster Entscheidungs- und Handlungskompetenzen ab, indem sie Menschen in ihrem sozialen und kulturellen Kontext „abholt“, ihnen Wissen zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme bereitstellt, zu kritischem und kreativem Denken befähigt, die Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft zur Lösung komplexer Probleme stärkt und Resilienz im Umgang mit Widersprüchen, Konflikten und unsicheren Zukünften aufbaut. Die Aneignung von fachlichem Wissen allein ist zur Krisenbewältigung und zum Erreichen der 17 Nachhaltigkeitsziele unzureichend.
Für die UNESCO ist die inklusive Schule für alle der Ort, „für das Leben zu lernen und das Gelernte auch zu leben“. In der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit realen Fragestellungen und Problemen unterstützt sie alle Lernenden bei der selbsttätigen Suche nach gemeinsamen demokratischen Lösungen und deren Umsetzung. Indem BNE „experimentell“, „handlungsorientiert“, „lokal zentriert“ stattfindet, werden Schulen „zu Reallaboren für Partizipation und Bürgerbeteiligung, Chancen- und Geschlechtergerechtigkeit, Gesundheit, Naturverbundenheit und Respekt für die Umwelt, Energieeffizienz und nachhaltigen Konsum“. In die Kompetenzentwicklung von Lehrenden muss investiert werden, da sie eine entscheidende Rolle bei der Förderung von BNE spielen.
Politik in der Pflicht
Die Politik hat die Verpflichtung, „jungen Menschen die aktive Mitwirkung an einer nachhaltigen Entwicklung dadurch zu ermöglichen, dass Lernangebote für bürgerschaftliches Engagement geschaffen und sie mit Kompetenzen und Instrumenten ausgestattet werden, um durch Beteiligung an BNE zum individuellen und gesellschaftlichen Wandel beizutragen“.
Die Verankerung von BNE in allen Bildungsprozessen und Bildungsbereichen sowie ihre Integration in allen politischen Agenden ist entscheidend für die positive Veränderung von Denkweisen und Weltanschauungen. In der Zusammenführung aller Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt wirkt BNE darauf hin, „dass die Entwicklungspfade nicht ausschließlich auf Wirtschaftswachstum zu Lasten des Planeten, sondern im Rahmen der Belastbarkeitsgrenzen der Erde auf das Wohl aller ausgerichtet sind“.
Die UNESCO-Roadmap
Die Berliner Erklärung verweist zur Umsetzung von BNE 2030 auf die sogenannte UNESCO-Roadmap als Fahrplan. Sie stellt fünf prioritäre Handlungsfelder heraus, in denen die Mitgliedstaaten bis 2030 aktiv werden müssen. Das sind die Bereiche „politische Unterstützung“, „ganzheitliche Transformation von Lern- und Lehrumgebungen“, „Kompetenzentwicklung bei Lehrenden“, „Stärkung und Mobilisierung der Jugend“ sowie „Förderung nachhaltiger Entwicklung auf lokaler Ebene“.
Mit dem Handlungsfeld „politische Unterstützung“ ist die Integration von BNE in globale, nationale und regionale politische Agenden angesprochen, die für Bildung und nachhaltige Entwicklung Relevanz haben. Damit soll ein förderliches pädagogisches Umfeld für Lernende entstehen, das neben dem Erwerb von Wissen und praktischen Kenntnissen auch die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen zu technologischen Entwicklungen und Anwendungen sowie Kompetenzen für gesellschaftspolitisches Engagement ermöglicht. Zudem sollen Synergien genutzt werden, die dafür Sorge tragen, „dass die Entwicklungspfade nicht ausschließlich auf Wirtschaftswachstum zu Lasten des Planeten, sondern im Rahmen der Belastbarkeitsgrenzen der Erde auf das Wohl aller ausgerichtet sind“, wie es in der Berliner Erklärung heißt.
Mit der „Förderung nachhaltiger Entwicklung auf lokaler Ebene“ soll die Bedeutung und Wirkung transformativen Handelns für die einzelnen und die Gemeinschaft erfahrbar werden. Daher sollen Kommunen einen Aktionsplan entwickeln, „wie die gesamte Gemeinschaft zu einem Lernlabor für nachhaltige Entwicklung und zu einem wichtigen Bestandteil von Länderinitiativen im Rahmen von BNE 2030 werden kann, um allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu bieten, zu Change Agents zu werden“.
Mit dem Handlungsfeld „Stärkung und Mobilisierung der Jugend“ werden junge Menschen als „Schlüsselpersonen“ für die Bewältigung von Nachhaltigkeitsherausforderungen und die damit verbundenen Entscheidungsprozesse anerkannt und miteinbezogen. Die bloße unterrichtliche Behandlung von Nachhaltigkeitsthemen und sporadische Projektwochen über BNE reichen dafür nicht aus. Erst die „ganzheitliche Transformation von Lehr- und Lernumgebungen“ unter dem Leitbild von BNE löst das schulische Lernen aus seiner Fremdbestimmung und seinen starren inhaltlichen, zeitlichen, räumlichen, organisatorischen und strukturellen Vorgaben und ermutigt Kinder und Jugendliche, zu Change Agents für nachhaltige Entwicklung zu werden.
Bildungspolitische Barrieren
Die damalige Bundesbildungsministerin Anja Karliczek erklärte anlässlich der UNESCO-Weltkonferenz 2021 in Berlin: „In Deutschland haben wir als weltweiter Vorreiter eine gute Startposition für die Umsetzung der Berliner Erklärung und des neuen UNESCO-Programms ‚Bildung für nachhaltige Entwicklung: die globalen Nachhaltigkeitsziele verwirklichen (BNE 2030)‘. Wir werden uns aber nicht zufrieden zurücklehnen, sondern unsere Anstrengungen weiter intensivieren. Das beginnt heute mit unserer nationalen Auftaktkonferenz.“ Sie konnte sich dabei auf den Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung (NAP) berufen, der 2017 von der Nationalen Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung beschlossen wurde.
Während Kommunen wie Gelsenkirchen den Sinn von BNE längst begriffen haben, hat die Kultusministerkonferenz (KMK) mit ihrer Vereinbarung zur gymnasialen Oberstufe soeben bewiesen, dass sie alles unternimmt, um sich gegen Lernende und Lehrende zu stellen, die in der Potsdamer Erklärung mehr Selbstverantwortung und innovatives Lernen in der gymnasialen Oberstufe einfordern, bspw. durch die Ermöglichung von selbstgewählten inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, von vertieftem selbständigem Lernen, von Lernen im eigenen Takt und von alternativen Lern- und Prüfungsformaten.
Von „Stärkung und Mobilisierung der Jugend“ fehlt in der KMK-Vereinbarung jede Spur. Es gibt keine Anknüpfungspunkte und keine Ermutigung zu transformativem Lernen und Handeln für junge Menschen, die aller Voraussicht nach in ihrem späteren beruflichen Leben verantwortliche Führungspositionen einnehmen werden. Nicht einmal eine Experimentierklausel wurde in die Vereinbarung der KMK aufgenommen.
Optimierung des Bestehenden statt Neues denken
Leistungshomogenisierung und Selektion, standardorientierte Lern- und Unterrichtsentwicklung, Herstellung formaler Vergleichbarkeit überziehen das gesamte Schulsystem und können doch nachweislich das System nicht gerechter und auch nicht leistungsfähiger machen, wie die aktuelle Studie des IQB zu Grundschulen und die Studie zu Hauptschulabschlüssen wieder nachdrücklich bestätigen.
Unter dem zunehmenden Einfluss der empirischen Bildungsforschung auf die Bildungspolitik seit dem schlechten Abschneiden von Deutschland in der internationalen OECD-Studie PISA 2000 treten mit der Konzentration auf normierte messbare Leistungsvergleiche pädagogische Perspektiven auf inklusive und nachhaltige Lernentwicklung in den Hintergrund. Während Kooperationsfähigkeit und soziale Kompetenzen als Soft Skills offiziell gepredigt werden, fördert der heimliche Lehrplan Konkurrenz zwischen Schulen und Schüler:innen sowie Ausgrenzung und Diskriminierung.
Bildungspolitische Resistenz
Die Verschärfung der Bildungskrise durch die Pandemie und den bildungspolitisch verschuldeten Mangel in der Lehrerversorgung haben bislang Bildungspolitiker:innen nicht zum Umdenken bewegen können. Auch die Ergebnisse einer quantitativen Studie des Nationalen Monitorings zu BNE hat die KMK nicht als alarmierenden Weckruf verstanden. Immerhin hat die Befragung ergeben, dass weniger als ein Viertel der jungen Menschen sich durch formale Bildung befähigt sieht, effektiv zur Lösung von Nachhaltigkeitsproblemen beitragen zu können.
Während der jüngste Menschenrechtsbericht des Deutschen Menschenrechtsinstitut festgestellt hat, dass die KMK nicht fähig und willens ist, die Weichen für eine menschenrechtskonforme Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention zu stellen, so muss im Lichte der UNESCO-Forderungen zu BNE konstatiert werden, dass die KMK auch Bildung für nachhaltige Entwicklung nicht umsetzt.
Parallelen zwischen der bildungspolitisch uneingelösten Verpflichtung zur Umsetzung von BNE und den uneingelösten Forderungen des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Klafki an die Bildungspolitik drängen sich auf. Er hat schon seit den 1970er Jahren allgemeine Bildung als Auseinandersetzung mit „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ wie die Umweltfrage, die Friedensfrage und die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit neu gefasst und auf dieser Basis eine innere und äußere Schulstrukturreform gefordert. Wie resistent die Bildungspolitik in Deutschland gegen die ernsthafte Rezeption und konsequente Umsetzung kritischer Bildungskonzeptionen ist, lässt sich daran ablesen.
Dennoch gibt es Schulen, die trotz fehlender Unterstützung „von oben“ die Impulse, die von der UN-BRK und von BNE 2030 ausgehen, für ihre Unterrichts- und Schulentwicklung nutzen. Und es gibt ebenso Schulen, die aus ihrem pädagogischen Selbstverständnis einer demokratischen Schule seit langem Friedens-, Demokratie- und Umwelterziehung für ihre Schüler:innen praktisch erfahrbar machen.
Gegenbewegung „von unten“
Damit Impulse zur Transformation in der Breite wirksam werden können, braucht es eine Gegenbewegung „von unten“. Nach ihren Erfahrungen in der Pandemie haben Leipziger Schüler:innen eines Gymnasiums öffentlich gemacht, dass Schule mit sinnentleertem Lernen unter Leistungs- und Konkurrenzdruck entmutigt und krank macht. Sie verstärkt die psycho-sozialen Probleme von Kindern und Jugendlichen, solange das Lernen sich an dem Erwerb von abfragbarem und benotetem Wissen orientiert statt an dem Grundsatz, „für das Leben zu lernen und das Gelernte zu leben“. Die daraus entstandene Initiative „Real-Labor Leipzig“ versteht sich als „friedliche Bildungsrevolution“ und will Schule nicht optimieren, sondern neu denken. Dabei spielt die transformative Kraft der Künste eine wesentliche Rolle.
Mit Unterstützung der Initiative „Schule im Aufbruch“ machen sich immer mehr Schulen auf den Weg und schaffen bspw. mit dem Frei-Day einen Freiraum für selbsttätiges und selbstverantwortliches Lernen und Handeln für nachhaltige Entwicklung. Sie sehen sich von der Berliner Erklärung bestätigt und gestützt.
Die Deutsche UNESCO-Kommission und das Bundesministerium für Bildung und Forschung vergeben in diesem Jahr zum zweiten Mal den „Nationalen Preis – Bildung für nachhaltige Entwicklung“. Damit werden Akteur:innen gewürdigt, die Bildung für nachhaltige Entwicklung besonders erfolgreich breitenwirksam umsetzen und in hervorragender Weise in ihre pädagogische Arbeit integrieren. „Schule im Aufbruch“ gehört zu den Preisträger:innen.
Das „Reallabore-Gesetz“ erweitern!
Was der Wirtschaft erlaubt wird, wird der Schule noch verweigert. Die Idee „Reallabor“ wird in Zusammenarbeit von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft schon längst praktiziert, um Spitzentechnologien, die allgemein noch nicht zuglassen sind, im realen Umfeld auf Chancen und Risiken zu erproben und für diesen Zweck von bürokratischen Verwaltungsvorschriften zu befreien.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat in der vergangenen Legislaturperiode ein Konzept für ein Reallabore-Gesetz vorgelegt. Es soll übergreifende Standards für Reallabore und Experimentierklauseln im Technologiebereich gesetzlich verankern und neue Reallabore in wichtigen digitalen Innovationsbereichen ermöglichen. Zudem sollen bereits bestehende Experimentierklauseln darauf geprüft werden, inwieweit diese auf Grundlage der Standards und zwischenzeitlich gewonnener Erkenntnisse überarbeitet und verbessert werden sollten.
Das von Robert Habeck übernommene Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz hebt die Bedeutung der Reallabore als wichtige Testräume für klima- und umweltschonende Technologien hervor. Man darf deshalb hoffen, dass das Ministerium für die Forderung der UNESCO ansprechbar ist, BNE in globale, nationale und regionale Politik zu integrieren, die für Bildung und nachhaltige Entwicklung Relevanz hat. In dem bisherigen Konzept gibt es keinen Bezug zum Bildungssektor und zu BNE. Auch die Kriterien für Innovationsförderung benötigen mit Bezug auf die Nachhaltigkeitsziele noch eine deutliche Schärfung.
Warum sollten nur Wirtschaftsunternehmen, Betriebe, Start-ups und Forschungsinstitute an der Erprobung von Zukunftstechnologien beteiligt sein und von der Zusammenarbeit profitieren? Warum sollten zukünftig nicht auch Schulen Partner von Reallaboren werden können? Reallabore zur klimagerechten Mobilität und Stadtentwicklung oder zum schonenden Verbrauch von Ressourcen, die übrigens in Baden-Württemberg schon gefördert werden, könnten sich hervorragend für die Partizipation von Jugendlichen und Schulen im Sinne der Berliner Erklärung und der UNESCO Roadmap eignen.
Gerade angesichts der bildungspolitischen „Lähmung“, wäre es extrem wichtig, die strukturelle Verankerung von BNE durch eine multisektorale und ressortübergreifende Zusammenarbeit verschiedener Ministerien auf Bundes- und Länderebene über das Reallabore-Gesetz voranzutreiben.
Dr. Brigitte Schumann war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium, zehn Jahre Bildungspolitikerin und Mitglied des Landtags von NRW. Der Titel ihrer Dissertation lautete: „Ich schäme mich ja so!“ – Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“ (Bad Heilbrunn 2007). Derzeit ist Brigitte Schumann als Bildungsjournalistin tätig.