Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, kann als Obfrau im Petitionsausschuss aus Erfahrung sagen: „Wenn Schulen sich mit Jugend- oder Sozialämtern zusammentun, kann das „Elternwahlrecht“ vollends zur Makulatur werden. Denn welche „Wahl“ besteht noch, wenn unter dem Deckmantel des Kindeswohls Kinder zu Störfaktoren erklärt werden?“
Was geschehen kann, wenn die Sorgeberechtigten dennoch auf Inklusion bestehen und sich aus der Sicht von allgemeinen Lehrkräften, Sonderpädagogen, Schulbehörde und Jugendamt „uneinsichtig“ zeigen, hat eine Alleinerziehende mit ihrer Tochter erfahren. Ausgerechnet geschehen in Rheinland-Pfalz, wo das vorbehaltlose Elternwahlrecht für inklusive Bildung gesetzlich verankert ist. Die Mutter sah sich veranlasst, im Juni 2020 den Gang nach Karlsruhe anzutreten und zusammen mit ihrer Tochter eine Verfassungsbeschwerde einzureichen.
Kampf um zielgleiche inklusive Bildung
Die Sorge, dass ihre Tochter mit der sonderpädagogischen Diagnose Förderbedarf Lernen als „lernbehindert“ ausgesondert und stigmatisiert wird, hat die Beschwerdeführerin während der gesamten Schullaufbahn begleitet. Schon während der Grundschulzeit stellt das Jugendamt die Gewährung der Integrationshilfe mit der Begründung ein, dass „aus Sicht des Jugendamtes sowie aller beteiligten Institutionen eine weitere Beschulung im Regelschulsystem nicht dem Wohl des Kindes entspricht“. Nach Rüffers Erfahrungen wird Alleinerziehenden bei schulischen Problemen besonders schnell behördlicherseits die Erziehungsfähigkeit abgesprochen. Statt Unterstützung erfahren sie Bevormundung.
Die Mutter weigert sich jedoch, ihr Kind in eine Sonderschule umzuschulen und besteht auf dem Verbleib an der Grundschule. Ihre Ablehnung des sonderpädagogischen Etiketts „lernbehindert“ und ihr Beharren auf zielgleiche Unterrichtung nach dem Curriculum der Grundschule zahlen sich aus. Die Tochter schließt die Grundschule erfolgreich ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ab.
Der Übergang zu einem Gymnasium gestaltet sich problematisch. Mobbing und Auseinandersetzung mit Mitschülern werden der Tochter einseitig angelastet. Die Schulleitung droht mit einer Anzeige wegen Körperverletzung für den Fall, dass die Mutter keinen Schulwechsel zu einer Sonderschule oder einer inklusiven Schwerpunktschule vornimmt.
Mit der Entscheidung für die inklusive Schwerpunktschule gestaltet sich das Schulleben allerdings nicht konfliktfrei, wie von Mutter und Tochter erhofft. Die Schule stellt Förderbedarf in den Förderschwerpunkten emotionale und soziale Entwicklung sowie Lernen fest und hält differenzierende Fördermaßnahmen mit reduzierten Leistungsanforderungen für notwendig. Die Mutter besteht auf zielgleichem Lernen nach dem Curriculum der Regelschule. Sie erkennt nur den sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung an.
Schulaufsicht ohne Verantwortung
So entwickelt sich ein konfliktreiches Spannungsverhältnis, das dadurch verschärft wird, dass die Tochter wegen fehlender Integrationshilfe drei Jahre nur in Teilzeit für jeweils drei Stunden pro Tag unterrichtet wird. Obwohl das Jugendamt die Integrationshilfe versagt, wird gegen die Mutter der Vorwurf erhoben, sie habe die Beantragung der Hilfe verschleppt.
Bildung und soziale Zugehörigkeit zu einer festen Klassengemeinschaft werden der Tochter durch die Verweigerung angemessener Vorkehrungen vorenthalten. Drei Jahre lang toleriert die Schulaufsicht diese Praxis der Diskriminierung und Isolation an einer Schule, die Inklusion als Auftrag hat. Die daraus resultierenden Folgen für die Lern-und Verhaltensentwicklung werden als Beweis gewertet, dass die Tochter an der Regelschule überfordert ist und die Mutter mit ihrem Ehrgeiz zum Schaden des Kindes seine Fähigkeiten maßlos überschätzt.
Eingriff des Jugendamtes
Während die Schulaufsicht sich ihrer Verantwortung entzieht, eskaliert der Konflikt. Die Lehrerschaft der inklusiven Schwerpunktschule ist sich einig, dass die Mutter mit ihren überhöhten Leistungserwartungen ihr Kind überfordert. Sie hält den Schulwechsel zur Sonderschule für erforderlich und bittet das Jugendamt zu überprüfen, ob eine Verletzung des Kindeswohls vorliegt.
Das Jugendamt setzt sein schwerstes Geschütz ein und beantragt per Eilantrag, der Mutter das Sorgerecht wegen Kindeswohlgefährdung komplett zu entziehen. Das Amtsgericht schließt sich im Hauptsacheverfahren der Bewertung des Jugendamtes an. Mit seiner Entscheidung auf Teilentzug des Sorgerechts und dessen Übertragung auf das Jugendamt macht das Gericht den Weg für die Überweisung zur Sonderschule frei.
Der Einspruch der Beschwerdeführerin beim Oberlandesgericht bleibt erfolglos. Es übernimmt die Argumentation des Amtsgerichts ungeprüft und weist die Beschwerde der Mutter ohne Anhörung zurück.
Die Mutter am Pranger
Ist es rechtswidrig, dass die Mutter inklusive Bildung wählt, die ihr in Rheinland-Pfalz vorbehaltlos als Wahlrecht ermöglicht wird, und sich der Abschulung ihrer Tochter zur Sonderschule widersetzt, wie von Schule und Jugendamt gefordert? Auch für ihre hartnäckige Weigerung, den sonderpädagogischen Förderbedarf im Lernen anzuerkennen, gibt es gute wissenschaftlich belegte Gründe, die für die Abschaffung dieses sonderpädagogischen Förderschwerpunktes sprechen.
Innerhalb der Erziehungs- und Bildungswissenschaft gilt „Lernbehinderung“, seit 1994 umbenannt in „sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen“, schon lange als höchst umstritten, weil zwischen einem pädagogischen und einem sonderpädagogischem Förderbedarf keine klare Abgrenzung möglich ist. Historisch lässt sich die Unschärfe der „Lernbehinderung“ damit erklären, dass sie ihre Wurzeln in dem pseudowissenschaftlichen und zudem geschichtsbelasteten Konstrukt der „Hilfschulbedürftigkeit“ hat.
Der Förderbedarf Lernen wird immer im Kontext der jeweiligen Schulklasse als Referenzgruppe ermittelt. Der Referenzgruppeneffekt sorgt nicht nur für eine große Leistungsstreuung innerhalb der Gruppe der „Lernbehinderten“. Er führt auch zu ungerechten Verzerrungen, die durch scheinbar objektive Testungen kaschiert werden. So kann es sein, dass ein Regelschüler weniger leistungsfähig ist als ein Schüler mit diagnostiziertem Förderbedarf Lernen.
Der als „lernbehindert“ etikettierte Schüler wird zieldifferent unterrichtet. Er lernt nicht mehr zielgleich nach den Lehrplänen der Grund- und Hauptschule, sondern nur in Orientierung an diesen. Damit wird ein negatives Urteil über seine Bildungsfähigkeit festgelegt, die die Reduktion des Leistungsanspruchs auch unterhalb von Grund- und Hauptschule legitimiert. Der Erwerb des Hauptschulabschlusses wird so erschwert und Chancen auf dem Ausbildungs-und Arbeitsmarkt werden extrem gemindert.
Die prozessbevollmächtigten Anwälte verweisen auf zahlreiche Forschungsergebnisse, die die stigmatisierende und abwertende Wirkung der Klassifikation „Lernbehinderung“ belegen, mit der eine den Fähigkeiten angemessene Förderung verhindert werde.
Verfassungsbeschwerde mit Eilantrag
Während der Eilantrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Aufhebung des Sorgerechtsentzugs vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt worden ist, läuft die Beschwerde im Hauptsacheverfahren weiter. Die Anwälte werten die Ablehnung nicht als Vorgriff auf das Beschwerdeurteil.
Die Beschwerde will geklärt wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen Behörden und Gerichte unter Berücksichtigung des Grundgesetzes und der von der Bunderepublik Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention die Annahme einer Kindeswohlgefährdung auf eine Weigerung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung und ihrer sorgeberechtigten Eltern stützen dürfen, die Förderschule zu besuchen.
Die Beschwerde begründet ihre verfassungsrechtliche Bedeutung mit mehreren Verstößen gegen das Grundgesetz. Da ist zum einen Artikel 6, der das Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder garantiert. Da ist Artikel 3, der ein Diskriminierungsverbot gegenüber Menschen mit Behinderungen enthält und durch die UN-Behindertenrechtskonvention verstärkt wird. Zwar habe die Konvention keinen Verfassungsrang, sei aber bei der Auslegung des Grundgesetzes verfassungsrechtlich unter Berücksichtigung der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes bedeutsam, so die Anwälte.
Es besteht weiterhin Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht im Lichte der völkerrechtlichen Verpflichtung der UN-BRK und unter Würdigung wissenschaftlicher Erkenntnisse das Urteil von 1997 revidiert, Damals befanden die Richter, dass die Überweisung eines behinderten Schülers an eine Sonderschule nicht per se eine verbotene Benachteiligung darstellt, auch wenn sie gegen den Willen des Behinderten oder seiner Erziehungsberechtigten ergeht, und insbesondere dann gerechtfertigt sein könne, wenn der Ausschluss „durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert“ werde.
Für Mutter und Tochter ist die Ablehnung des Eilantrags bitter und deprimierend. Die Zwangsumschulung zur Sonderschule ist zu Beginn des neuen Schuljahres im Namen des Kindeswohls gegen den Willen der beiden vom Jugendamt vollzogen worden. Die Landespolitik ist nun gefordert, dem Spuk ein Ende zu machen und dem Jugendamt zu vermitteln, dass das vorbehaltlose Elternwahlrecht in Rheinland-Pfalz gilt und im Sinne der Betroffenen umgesetzt werden muss.
Zuerste veröffentlicht auf bildungsklick vom 09.09.2020 – mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Dr. Brigitte Schumann war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium, zehn Jahre Bildungspolitikerin und Mitglied des Landtags von NRW. Der Titel ihrer Dissertation lautete: „Ich schäme mich ja so!“ – Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“ (Bad Heilbrunn 2007). Derzeit ist Brigitte Schumann als Bildungsjournalistin tätig.