Was zählt Bildung?

Um die Wiederöffnung der Schulen und Kitas wird in Verbänden. in der Politik und in der Öffentlichkeit heftig gerungen. Im Vordergrund jeglicher Argumentation steht selbstverständlich der Gesundheitsschutz für die gesamte Bevölkerung. Da in den Schulen und Kitas viele Kinder und Erwachsene auf engem Raum (hier rächt sich u.a. die Reduktion der Raumbedarfsgrößen in den Schulbaurichtlinien [„Käfighaltung“], aber auch das immer noch allenthalben gepflegte Frontalkonzept in der Unterrichtsgestaltung) über längere Zeit zusammen sind, besteht ein erhöhtes Infektionsrisiko für alle. Die Verlängerung der Schulschließung erscheint aus epidemiologischer Sicht also völlig nachvollziehbar.

Zwei Argumentationen, die in den offiziellen Verlautbarungen immer wieder vorgetragen werden, erscheinen mir jedoch bezeichnend für die Tatsache zu sein, dass Schule trotz der Verwerfungen durch Corona nicht einer kritischen Überprüfung unterzogen wird.

Da ist einerseits die häufig wiederholte Entschuldigung bei den Eltern der Kinder, dass man ihnen ihre Kinder längere Zeit überlässt und sie nicht entlasten kann. Das ist in gewisser Weise natürlich verständlich, denn Kinder, die nicht nach draußen dürfen oder gar einer organisierten Obhut übergeben werden können, sind eine Last für die Eltern, die Homeoffice machen müssen. Sie sind verständlicherweise auch für Eltern belastend, die den Kopf voller Sorgen haben, wie es mit ihrer eigenen wirtschaftlichen Existenz weitergehen wird. Auch da, wo Eltern ihren Kindern nicht beim Homeschooling helfen können, werden sie zur Last.

All das ist richtig und nachvollziehbar. Aber ich möchte dennoch die Frage stellen, wie es unsere hochdifferenzierte Gesellschaft geschafft hat, Kinder als Last zu empfinden, wenn sie in einer außergewöhnlichen Situation längere Zeit zuhause bei ihren Eltern sind.

Und noch eine Frage muss erlaubt sein: Warum entschuldigt sich die Politik bei den Eltern dafür, das sie ihnen eine ungewöhnlich Belastung durch die Anwesenheit ihrer Kinder zumutet, nicht aber bei den Kindern dafür, dass man ihnen das Recht auf Bildung vorenthält?

Das hängt unmittelbar mit der zweiten fragwürdigen Argumentation zusammen: Wenn die Politik über die vorsichtige Öffnung der Schulen diskutiert, wird als erstes und wichtigstes Gebot die Ermöglichung von (Abschluss-)Prüfungen erwähnt: Abitur, Quali etc. haben absoluten Vorrang. Auch das ist unter den akuten Umständen verständlich, schließlich haben sich die Schüler*innen der Abschlussklassen mit Fug und Recht auf ihren Abschluss konzentriert, häng doch ihr weiterer Bildungs- und/oder Berufsweg davon ab. Diesen jungen Menschen muss Sicherheit für diese entscheidenden Wochen gewährleistet sein, niemand darf in den unverschuldeten Wirren einen Nachteil erleiden.

Mir geht es aber um eine ganz grundsätzliche Tatsache, die sozusagen als „Nebenwirkung“ der Krise evident wird: unser Schulsystem entlarvt sich in seiner unerbittlichen Selektions- und Allokationsfunktion. Beide haben absoluten Vorrang vor Bildung. Die Prüfungen scheinen wichtiger zu sein als der Prozess, der mit vielen sozialen, kognitiven, emotionalen und aktionalen Erfahrungen verbunden zu dem führen soll, was am Ende einen gebildeten Menschen ausmacht – und das sind beileibe nicht die Prüfungsnoten. Aber sie sind entscheidend dafür, welchen (Aus-)Bildungsweg jemand wählen kann und welcher Platz in der Gesellschaft ihm damit zugewiesen wird.

Jetzt in der Coronakrise besteht die Möglichkeit, Schule wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen und als Ort für Bildung anzusehen. Dazu sollte ein breiter Diskurs JETZT losgetreten werden, der sich damit befasst, was Bildung heute und morgen bedeuten kann und soll.

Es sind nicht die Abschlüsse, die einen gebildeten Menschen machen.

(15.04.2020 – Dr. Gerald Klenk)

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Ein Gedanke zu “Was zählt Bildung?”

  1. Danke für diese klaren Worte – und den Verweis auf die Petition an den Bundestag, die heute auch der KMK überreicht worden ist. Alte Schule können wir unter den gegebenen Bedingungen sowieso nicht weitermachen, ohne Teilgruppen wie die Jüngeren gegenüber den Älteren (oder umgekehrt) zu benachteiligen. Also nutzen wir doch die Chance, Schule anders zu machen, Bildungserfahrungen zu ermöglichen, für die sonst keine Zeit ist, weil Stoffplan, Standards, Zeugnisse und Prüfungen drängen. Corona ist eine Plage, aber vielleicht eröffnet sie auch Chancen – wenn wir den Mut haben.

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